Böses Prüfungsrechtsurteil des VGH Baden-Württemberg
Ein aufmerksamer Leser hat mich auf die Entscheidung 4 S 1071/08 des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg hingewiesen. Das muß ich mal kommentieren.
Um Urteile zum Prüfungsrecht zu verstehen, muß man einiges an Hintergrundwissen haben. Dazu gehört, daß Professoren in Deutschland normalerweise zu keinem Zeitpunkt das Prüfen und Bewerten lernen. Die Professur ist einer der wenigen Berufe, für die es hier effektiv keine Ausbildung gibt und die fast nur nach Gutdünken und Willkür ausgeübt werden.
Der zweite Punkt ist, daß es vor 1991 in Deutschland so gut wie kein Prüfungsrecht gab, Prüflinge waren den Prüfern und deren Willkür schutzlos ausgeliefert. Ein Professor konnte mit einem Prüfling tun und lassen was er wollte, und es war rechtlich so gut wie gar nicht angreifbar. Schon mehrfach hatten manche Verwaltungsgerichte ein Prüfungsrecht angemahnt, weil die Situation als grob rechtswidrig empfunden wurde, es aber nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte sein könnte, Gesetze zu machen. Das interessierte den Gesetzgeber aber nicht, denn es gibt kein politisches Interesse an fairen Noten. Das will man gar nicht. Damit machte das Bundesverfassungsgericht 1991 dann vorläufig Schluß, indem es mit zwei Entscheidungen das Prüfungsrecht neu ordnete und sich dabei an der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG und der Rechtswegsgarantie aus Art. 19 IV GG orientierte.
Es wurde festgelegt, daß ein Prüfer Richtiges nicht als falsch werten darf. Das bis dahin nämlich nicht verboten. Jeder Prüfer konnte nach Gutdünken seine eigene persönliche Meinung als allein richtig und alles andere als falsch hinstellen. Ein Prüfer mußte nun seine Bewertung nachvollziehbar und wirksam begründen. Es sind nur solche Bewertungen zulässig, die mit dem festzustellenden Prüfungsziel in Zusammenhang stehen. Die Anforderungen und Bewertungsmaßstäbe bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Der Prüfer darf nicht gleichzeitig die Anforderungen festlegen und entscheiden, ob sie erfüllt sind. Für vergleichbare Prüflinge müssen vergleichbare Maßstäbe herrschen. Der Prüfling muß einen Rechtsweg haben. Damit der – trotz des Entscheidungsraumes des Prüfers – gewährleistet ist, wurde eine seltsame Konstruktion erdacht, das Verfahren des Überdenkens. Der Prüfer muß auf die Einwände des Prüflings eingehen und die Bewertung gegebenenfalls ändern. Reichlich naiv und rechtstheoretisch anzunehmen, daß ein deutscher Professor einfach so zugeben würde, daß seine Bewertung falsch war und der Prüfling mehr Recht hatte als er selbst. Man nahm an, der Professor würde sich selbst in Frage stellen. Aber so hat man es nun einmal entschieden.
Am Anfang schlug das auch ein. Für einige Jahre konnte man beobachten, daß die Verwaltungsgericht fast alle umschwenkten und diese neue Rechtsprechung umsetzten. Viele Prüflinge gewannen ihre Streitfälle.
Vielen Leuten mit viel Einfluß gefiel das aber nicht. Wo kämen wir hin, wenn jeder Prüfling den Professor in Frage stellen dürfte?
Deswegen fing man nach einigen Jahren – so im wesentlichen ab 2002 – wieder an, zurückzurudern und das alles wieder abzuschaffen, und letztlich den rechtlosen Zustand vor 1991 wieder herzustellen. Es gibt Kommentare in juristischen Zeitschriften, die dieses “Zurückrudern” im Prüfungsrecht beobachtet und kritisiert haben. Ich weiß von einigen Anwälten, die in diesem Bereich – teils sogar führend – tätig sind, daß die fast nichts mehr gewinnen, weil die Richter immer willkürlicher und immer sturer zugunsten der Prüfer entscheiden. Was mich immer wieder in meiner Auffassung bestärkt, daß wir unter einem galoppierenden Abbau der Demokratie und einem Rückfall in spätmittelalterliche Feudalstrukturen und in die Korruption als Staatsform leiden. Wir sind schon fast wieder an dem Punkt angekommen, an dem der Bürger sich gegen die korrupte Obrigkeit nicht mehr wehren kann.
Das habe ich auch in meinem eigenen Prüfungsrechtsstreit bemerkt. In der ersten Runde – 2000 bis 2003 – bin ich noch ziemlich gut und erfolgreich durchgekommen. Dann haben die Richter gewechselt und im zweiten Durchgang – gleiches Gutachten Beth, noch schlechteres Zweitgutachten als zuvor – dann völlig abgewatscht. Plötzlich saßen da Richter, die sich für Prüfungsrecht und Grundrechte eigentlich nicht mehr interessierten und Professoren für praktisch unantastbar erklärten. Die dann sogar offenkundig falsche Sachverständigenaussagen hinnahmen und diese noch durch nachträgliche heimliche Verfälschung der Vernehmungsprotokolle zurechtbogen. Plötzlich sieht man sich Richtern ausgesetzt, die den Fall nicht kennen, die bewußt falsche Aussagen einsammeln und die Protokolle fälschen. Auf die Probleme mit dem Verwaltungsgericht Karlsruhe und der Staatsanwaltschaft Karlsruhe bin ich ja schon eingegangen.
War im ersten Streitdurchlauf der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg noch der sichere Hafen, der Ordnung in die Sache brachte, hat sich das inzwischen völlig geändert. Selbst gröbste Verfahrensfehler wollten die bei mir nicht mehr als Berufungsgrund akzeptieren. Das gesamte Prüfungs- und Hochschulwesen wird systematisch dem Rechtsweg entzogen, da werden Feudalstrukturen aufgebaut. Mehrere Anwälte haben mir erzählt, daß sie in Prüfungsrechtsangelegenheiten seit Jahren selbst in krassen Fällen mit nichts mehr durchkommen. Insofern ist allerhöchste Vorsicht geboten, wenn dieser Tage Politiker zu Themen wie der Vorratsdatenspeicherung auf den Richtervorbehalt verweisen. Richtern kann man immer weniger trauen.
Nun machte mich also jemand auf ein aktuelles Urteil des VGH Mannheim aufmerksam. Das ist zwar ein anderer Senat als der, vor dem ich da gelandet bin. Aber fragwürdig ist es trotzdem.
Da ist jemand zum zweiten Mal durch eine Prüfung gefallen. Was nicht gerade auf dessen Qualitäten schließen läßt. Aber auch nichts daran ändert, daß der Grundrechte hat und die durchsetzen können muß. Es ist nicht so, daß die Grundrechte mit jeder Wiederholungsprüfung abnehmen. Nun hatte der Prüfling gegen seinen Widerspruchsbescheid Einwände erhoben. Das Landeslehrerprüfungsamt hatte diese an die Prüfer weitergeleitet, aber dazugeschrieben (Rn. 8):
„Von besonderem Interesse ist hierbei Ihre Stellungnahme zu den in der Begründung markierten Aussagen. Ihr Schreiben sollte darüber hinaus folgende Aussagen unbedingt beinhalten: Dass Sie den Widerspruch gelesen, die einzelnen Aspekte überdacht haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, die Beurteilung sei angemessen und sachgerecht bzw., wenn Sie zu einer anderen Beurteilung kämen, nicht angemessen und sachgerecht.“
Und das ist doch eigentlich schon eine Anleitung zum Lügen. Einerseits wird den Prüfern hingelegt, daß sie sich auf die markierten Aussagen beschränken sollen, andererseits sollen sie trotzdem erklären, den Widerspruch gelesen und überdacht zu haben. In meinem eigenen Fall habe ich alle drei Prüfer dabei ertappt, daß sie den Widerspruch nicht gelesen und trotzdem falsche Erklärungen abgegeben haben, zwei davon sogar nach Anstiftung durch den Rechtsanwalt der Universität. Eine solche Erklärung ist normalerweise ein Grund, die Bewertung aufzuheben. Und das hat in diesem Fall das erstinstanzliche Verwaltungsgericht sogar getan, der Prüfling hat gewonnen. Aber dann kam der VGH und wies die Klage doch ab. Unter anderem, weil die Prüfungsbehörde eine solche Vorauswahl vornehmen dürfe (Rn. 40), denn sie habe ja vorher zu prüfen, ob die Einwände substantiiert sind. Das ist aber systemwidrig. Denn nach der Sichtweise des BVerfG kann die Prüfungsbehörde die Bewertung nicht ersetzen und deshalb auch nicht erkennen und bewerten, welche Einwände substantiiert sind. Der Rechtsschutz läuft ja völlig leer wenn der Gegner selbst entscheiden darf, welche Einwände er bearbeiten möchte und welche er für irrelevant hält. Da wird ja der gesamte Rechtsweg ausgehebelt.
Auch daß die Prüfer hier offenkundig zu wahrheitswidrigen Erklärungen angehalten wurden, stört den VGH nicht (Rn. 38/39). Einerseits erlaubt der VGH der Prüfungsbehörde, eine Vorauswahl der zu berücksichtigenden Einwände zu treffen, andererseits gestattet er es, den Prüfern die Vorgabe für die Abgabe der unwahren Erklärung zu geben, man haben die ganzen betrachtet. Der VGH gibt hier einen Freibrief zum Lügen.
Interessant auch, wie der VGH sich um das Problem der (unzulässigen!) nachträglichen Begründung herummogelt (Rn. 32). Ich bemerke diesen geistigen Knieschuss in immer mehr Urteilen: Um zu begründen, warum etwas, das eigentlich nicht erlaubt ist, hier trotzdem erlaubt wird, erläutert man, daß es eigentlich gar nicht erlaubt ist, damit aber letztlich gemeint sei, daß es gerade erlaubt sei oder jedenfalls so gemeint war, wie es hier gerade vorliegt. Verblüffend viele Urteile begründen eine unrichtige Auffassung damit, daß die Rechtsmeinung oder das Gesetz eigentlich das Gegenteil meinen, und man es trotzdem so auslegt.
Was wieder mal meinen Eindruck bestätigt, daß Rechtsprechung nichts mit Recht, sondern mit sozialen Strömungen, Mainstream, Meinungen und Ausbildungsmängeln der Juristen zusammenhängt.
Und immer wieder beobachte ich, daß keine Rechtsfindung mehr stattfindet, sondern nur noch die Begründungsfindung für Willkürentscheidungen.
Mit einem Rechtsstaat haben wir schon lange nichts mehr zu tun. Der Verwaltungsrechtsweg wird ja auch immer mehr abgebaut. Wir werden wieder zur Obrigkeitsdiktatur preußischen Zuschnitts.
Nachtrag: Einen hatte ich beim Schreiben noch vergessen: Im Urteil steht, daß die Prüfer über die Probestunde des angehenden Lehrers geschrieben hatten (Rn. 4):
“Formal wurde das Stundenziel erreicht.”
Damit kann der Prüfling eigentlich nicht mehr durchfallen, weil nach der Rechtsprechung des BVerfG eine brauchbare Prüfungsleistung nicht zum Nichtbestehen führen darf. Die Prüfer hätten erklären müssen, was am Stundenziel nicht erreicht wurde. Stattdessen labert sich das Gericht außenrum. Richtig bescheuert wird es dann in Randnummer bzw. Absatz 46:
Der Kläger macht geltend, die Behauptung, er habe „formal das Stundenziel erreicht“, stelle ein positives Werturteil dar, das eine Prüfungsleistung beschreibe, die eine Bewertung als mangelhaft nicht erlaube. Die Prüfungskommission hat jedoch – wie bereits ausgeführt – in ihren Stellungnahmen in nicht zu beanstandender Weise klargestellt, dass mit der genannten Formulierung ein negatives Werturteil abgegeben werden sollte.
Aha. “Formal das Stundenziel erreicht” wird als – nachträglich – als negatives Werturteil aufgefasst. Der Schwachsinn kommt mir so vertraut vor.