Über das Lügen und die Universitäten
Ein aufmerksamer Leser hat mich in Kommentaren zu früheren Postings (a, b) auf ein paar interessante Webseiten aufmerksam gemacht. Weil es schade wäre, die nur in Kommentaren älterer Artikel liegen zu lassen, greife ich sie extra auf.
Da ist zum ersten ein Interview mit dem emeritierten Professor Wolfang Reinhard unter dem Titel “Eigentlich sind wir eine ziemlich verlogene Bande” über sein Buch über das Lügen. Zitat:
Ich bin seit langem der Meinung, dass sich die deutsche Politik im Allgemeinen und die deutsche Hochschulpolitik im Besonderen durch eine besondere Verlogenheit auszeichnet. […]
Jede Wissenschaft ist eine Art soziales System, sowohl die Wissenschaft als solche, als auch die einzelnen Fächer. Jedes System geht mit Abhängigkeiten formeller und informeller Art einher. Man ist als Wissenschaftler also Zwängen ausgesetzt und einem beträchtlichen Konformitätsdruck, gerade, wenn man Karriere machen will. Je höher nun der Druck, desto größer die Gefahr der Unaufrichtigkeit, im Extremfall der Fälschung von Ergebnissen.
Wenn die Margarineindustrie eine Untersuchung in Auftrag gibt, steht nicht zu erwarten, dass dabei herauskommt, Butter sei gesünder. Übersetzt: Wenn Sie eine Doktorarbeit über Mikropolitik bei Wolfgang Reinhard schreiben, werden Sie darin kaum behaupten, Mikropolitik sei Unsinn. Die Frage ist aber, ob wir so zu Erkenntnissen gelangen, die weiterführen. Die Wissenschaft reproduziert sich pausenlos selbst, es wird Recycling betrieben. Das führt in gewisser Hinsicht zu Leerlauf, weil die jungen Leute dazu gezwungen sind, ständig das Rad neu zu erfinden.
Zu über 90 Prozent sind die heute in den Geisteswissenschaften erzielten Ergebnisse eigentlich überflüssig, und ich vermute, dass sich das bei den Naturwissenschaften ganz ähnlich verhält, auch wenn die mir das jetzt übel nehmen werden. Wirklich innovative, neue Erkenntnisse sind jedenfalls die Ausnahme, und man kann dann sogar noch dankbar sein, wenn man nicht ausgegrenzt wird. So war das bei mir ja auch: Meine eher braven Projekte wurden gefördert, die wirklich innovativen abgeschossen.
Das Dilemma der Professoren ist, dass da eine Menge eifriger junger Leute dranhängen, für die es um Stellen geht. Das ist eine Frage der Verantwortung, und da ist man nicht immer ehrlich. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen: Als ich in der Neu-Auflage des Gebhardt [Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Auflage 2001, Teil III – Frühe Neuzeit; Anm. d. Red.] schrieb, die frühe Neuzeit existiere allein deswegen, weil es Frühneuzeitwissenschaftler gäbe, die sich damit befassen, und nicht etwa andersherum, bekam ich einen bitterbösen Brief von einem Kollegen, es sei unverantwortlich, so etwas laut zu sagen. Der hat mir vorgeworfen, ich hätte sozusagen das Betriebsgeheimnis ausgeplaudert, und das ginge nicht, denn nun könnte ja einer kommen und Lehrstühle streichen. Dabei würden für das, was wir über den Holocaust oder Luther wirklich wissen müssen, auch ein, zwei Lehrstühle ausreichen. Aber das darf man eben nicht sagen, und da zeigt sich eine Art strukturelle Verlogenheit.
Das Buch habe ich mir natürlich sofort bestellt. Was er schreibt, kann ich – als Informatiker – voll bestätigen. Von Doktoranden wird verlangt, daß sie das längst Bekannte und die längst Bekannten bis zum Erbrechen repetieren und zitieren, schreiben was ihr Doktorvater hören will und damit nicht wissenschaftlich arbeiten, sondern sich durch Bekenntnis zu einer bestehenden Auffassung in eine Clique einpassen, so wie ein Corps-Student die Farben seiner Verbindung trägt. Es gibt praktisch keine Neuigkeiten in der Informatik, das sind alles nur kleine Schrittchen, die durch viel Schaum und heiße Luft aufgeplustert werden. Und daß die Produkte der Geisteswissenschaftler zu (mindestens) 90 Prozent überflüssig sind, der Verdacht war mir auch schon gekommen.
Sehr interessant sind auch die beiden englischen Webseiten auf Leaving Academia. Unter Should you quit grad school during the recession? wird die Frage untersucht, ob man in wirtschaftlich schwierigen Zeiten lieber an der Uni bleiben oder in die Wirtschaft gehen soll. Die Antwort fällt drastisch aus, selbst in der Rezession ist Wirtschaft immer noch besser als Hochschule. Zitat:
I also think that, as much as grad school gives you a sense of security by virtue of the fact that it gives you something to do (even when you avoid doing it), it’s a very, very insecure state to be in, year after year. Financially, it could not be more insecure. The prospects for academic work are insecure. It can be draining on your mental health, your social life, your relationship with your significant other. To go from the insecure state of grad school to the insecure state of the general job market actually doesn’t seem so bad when you consider that job-hunting doesn’t cost you money, doesn’t have built-in ritual humiliation (though that can certainly be a by-product of it, for sure) and only requires you to draft a 2-page document, rather than a 300-500 page one.
Auch das entspricht meinen Beobachtungen, und es scheint (in Deutschland) auch ständig schlimmer zu werden. Weil der Staat die Unis nicht mehr finanzieren kann – das heißt, Professuren gibt es schon, aber von denen, die drumherum die Arbeit machen zu wenig – wird eigentlich systematisch ein Betrugssystem aufgebaut, in dem Mitarbeiter zu niedrigen Löhnen und miserabelsten Arbeitsbedingungen für ihre Promotion arbeiten müssen.
Beleuchtet wird auch die Frage nach dem Zeitpunkt, If you’re going to quit academia, when should you do it? Zwar sagen sie, daß es von vielen Faktoren abhängt und individuell ist, aber auch
But deciding on the timing of your departure also has to do with the delicate matter of cutting your losses. Calculating losses, though, is an imprecise science because there are so many unknown factors. For example, if you quit after, say, completing your comprehensive exams, are you cutting your losses by sparing yourself years of the gruelling dissertation-writing process (which can be totalled up in dollars, tears, therapists’ bills, damaged relationships, etc.)? […] The longer you stay in your Ph.D. program, your debt load goes up, but so do your credentials. But do those credentials even mean anything to you if you’re depressed, disillusioned and miserable?
Die Hochschule verlassen bedeutet also, Verluste zu begrenzen. Das Arbeiten als Mitarbeiter wird als Verlustgeschäft angesehen. Ist es auch.
Darin habe ich dann noch weitere interessante Links gefunden, wie den zu Penelope Trunk’s Don’t try to dodge the recession with grad school. Unbedingt lesen! Zitat:
1. Grad school pointlessly delays adulthood.
The best thing you can do for yourself is take time to figure out who you are and where you fit in the world. No one teaches you that in school. You need to do it yourself. Grad school is a way to delay this process, rather than move you forward, […]
2. PhD programs are pyramid schemes
It’s very hard to get a job teaching at a university. And if you are not going to teach, why are you getting a degree? You don’t need a piece of paper to show that you are learning. Go read books after work. Because look: In the arts, you would have a better chance of surviving the Titanic than getting a tenure-track position; and once you adjust for IQ, education, and working hours, post-PhD science jobs are among the most low-paying jobs you could get. […]
Es ist vielleicht nicht ganz auf Deutschland übertragbar, weil halt hier der Doktor als Pseudo-Qualifikation im Namen getragen wird, aber es ist was wahres dran.
Dank an den Leser, der mir die Links geschickt hat.