Prüfungsrecht: Anmerkungen zu einem fragwürdigen Gerichtsurteil
Ein Leser hat mich auf ein aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 22.7.2009, 1 K 477/08, aufmerksam gemacht. Ein paar Anmerkungen dazu.
So richtig beurteilen kann man das Urteil eigentlich nicht, ohne den Fall zu kennen und zu wissen, worum es geht. Das wiederum erlaubt das Werturteil, daß das Urteil nicht viel taugt, denn ein Urteil muß so abgefaßt sein, daß man es auch isoliert lesen und verstehen kann. Nach meiner Erfahrung ist fast immer dann, wenn ein Urteil undurchsichtig und für sich betrachtet nicht voll verständlich ist, etwas gewaltig faul und meist stellt sich das als richterliche Schlamperei oder bewußtes Vertuschen von Urteilsfehlern heraus. Zumal ich ja durchaus schon die ein oder andere Kritik an Verwaltungsgerichten geübt habe. Ich will es mal so sagen: Diverse Richter und ich sind uns zumindest darin einig, daß wir über ordentliches und sauberes Arbeiten ganz unterschiedliche Vorstellungen haben.
Man muß allerdings auch eine Entwicklung sehen, die sogar schon in der Rechtsliteratur mehrfach kritisiert wurde, und die zweifellos eine Folge dessen ist, daß sich der Neoliberalismus (sprich: Pfeifen auf den Rechtsstaat) auch in den Köpfen von Richtern zunehmen breit macht: Nämlich der Rückbau des Prüfungsrechts. Bis 1991 gab es praktisch kein Prüfungsrecht, der Prüfling war dem Prüfer und dessen Willkür schutzlos ausgeliefert. 1991 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß es so nicht weitergeht. Prüfer müssen ihre Bewertung begründen, der Prüfling kann sie angreifen und – man höre und staune – es wurde neu eingeführt, daß Prüfer eine richtige Antwort nicht mehr als falsch bewerten dürfen. Die Praxis, daß der Prüfer sich willkürlich und nach seinem Geschmack raussuchen darf, was er für allein richtig hält, und der jede andere Meinung als falsch hinstellen darf, hat man abgeschafft. Kann der Prüfling seine Meinung vertreten, darf sie nicht als falsch gewertet werden.
In der Folge dieser Grundsatzentscheidung gab es einige Jahre eine für die Prüflinge sehr günstige Rechtsprechung, die Gerichte luden so manchen Professor vor, ließen ihn seine Bewertung begründen und teilten ihm Watschen aus, wenn er das nicht konnte.
Doch seit ein paar Jahren ist zu beobachten, daß die Gerichte wieder zurückrudern. Plötzlich bewegen sich die Gerichte wieder in die andere Richtung und stellen den rechtsstaatswidrigen Zustand vor 1991 wieder her: Der Prüfer kann machen was er will und der Prüfling ist rechtslos. Viele Richter zersetzen den Rechtsweg geradezu und lassen dem Bürger kaum noch eine Chance gegen die Staatsgewalt. Auch bei Richtern gewinnt die Frage, was man ohne nachhaltigen Ärger durchdrücken kann, zunehmend an Bedeutung im Vergleich zu der Frage, was geltendem Recht entspricht. Das ist nicht zuletzt auch eine Folge der verschiedenen Justizreformen, in denen man den Instanzenweg immer weiter abgedreht hat. In Berufung zu gehen ist heute nicht mehr einfach und nur noch möglich, wenn das Berufungsgericht gerade Lust hat. Das wissen auch die Verwaltungsrichter und stellen sich darauf ein, daß es über ihre Urteile in den Fällen, an denen nicht genügend Fleisch ist, um das Interesse der Berufungsrichter zu wecken, keine Kontrollinstanz gibt und es letztlich völlig egal ist, ob und was sie in das Urteil schreiben.
Ich habe vor einigen Jahren in meinem Promotionsstreit im ersten Durchgang noch ziemlich gut gewonnen, auch vor dem Oberverwaltungsgericht. Dann haben einige der Richter gewechselt. Der gute und faire Richter wurde zum Bundesverwaltungsgericht befördert. Die Nachfolger jedoch gerieren sich als Abbruchunternehmen für Grundrechte. Ein sehr bekannter und anerkannter Anwalt, der sich auf Prüfungsrecht spezialisiert hat und auf dem Gebiet als maßgeblich angesehen wird, sagte mir, daß er seit der Neubesetzung des Senats gar nichts mehr gewinnt. Die hören nicht mal mehr zu. Der Umbau des Rechtsstaats in einen Obrigkeitsstaat (und damit in den Korruptionsstaat) findet auch und vor allem in den Gerichtssälen statt.
Die erste der Hauptaussagen des Urteils ist
Enthält die Prüfungsordnung keine ausdrücklichen Anforderungen, so bestimmen sich Inhalt und Form der Betreuung einer Diplomarbeit nach dem Zweck der Diplomprüfung sowie ferner nach der Praxis zwischen Prüfling und Betreuer.
Was soll das nun bedeuten? Richtig ist zwar, daß die Prüfungsordnung die Anforderungen bestimmen müßte, ich kenne aber bisher keine Prüfungsordnung, die das tatsächlich enthält. Dafür kenne ich Fakultäten, die sorgsam darauf achten, daß dazu nichts drinsteht. Die Konsequenz ist, daß die Betreuung eigentlich nicht greifbar ist und sich nach der Praxis richtet. Das ist aber eine selbstbezügliche Aussage, die Betreuung richtet sich nach der Praxis – und die Praxis ist, daß der Diplomand vom Professor gar nicht betreut wird.
Ich habe direkte Zweifel an der Richtigkeit, denn das Bundesverfassungsgericht hatte 1991 entschieden, daß die Anforderungen und Bewertungsmaßstäbe der gesetzlichen Grundlage bedürfen und gerade nicht vom Prüfer selbst festgelegt werden dürfen, denn es darf nicht sein, daß der Prüfer gleichzeitig die Anforderungen festlegt und bewertet, wie weit sie erfüllt wurden. Außerdem müssen für vergleichbare Prüflinge so weit wie möglich gleiche Prüfungsbedingungen gelten. Diese Aussage des Gerichts halte ich deshalb für nicht richtig.
Fragwürdig ist auch die Auffassung des Gerichts – und das kommt mir ja aus meinem eigenen Fall sehr bekannt vor – daß die Prüfer, die eine Arbeit ablehnen, sich nicht in Widerspruch dazu setzen, wenn sie gegenüber dem Prüfling vorher äußern, daß die Arbeit so gut wäre. Das Gericht macht dabei den ganz gravierenden und m. E. überhaupt nicht mehr zu rechtfertigenden Fehler, daß es (Rn. 28) über den “maßgeblich objektivierten Empfängerhorizont” (eine typisch juristische Formulierung, die irgendwann mal etwas vernünftiges war, aber längst nur noch dazu dient einzuleiten, daß der Richter jetzt bewußt das Gegenteil dessen unterstellt, was tatsächlich gesagt wurde. Juristen bilden sich gerne Standardformulierungen als Schmiermittel für gezielte Fehler) zu dem Ergebnis kommt, der Prüfling hätte sich nicht darauf verlassen dürfen, wenn die Prüfer ihm mitteilen, das wäre alles prima. Denn, so eine typisch juristisch verworrene Sichtweise, wenn einer “gut” sagt, müßte der andere als Empfänger erkennen, daß er in Wirklichkeit “schlecht” sagt. Jurisprudenz hat weniger mit Logik, als mit dem geschmeidigen Ausformulieren von Unlogik zu tun.
Wenn aber der Prüfling – und so ging es mir ja selbst – sich nicht auf die Einschätzungen des Prüfers verlassen kann, worauf denn dann? An deutschen Universitäten ist nicht in Erfahrung zu bringen, was von einem Prüfling bei Diplomarbeit und Dissertation eigentlich verlangt wird. Es gibt keine greifbaren Anforderungen, der Prüfling ist allein den Launen des Prüfers unterworfen.
Die Konsequenz ist, daß der Prüfling die Arbeit dann einreichen muß, wenn der Prüfer “gut” sagt. In diesem Urteil behaupten die Richter, der Prüfling hätte sich darauf nicht verlassen dürfen und die Arbeit ändern müssen (wie auch in meinem eigenen Streit). Was aber folgte daraus? Der Prüfling soll sich bewußt mit dem Prüfer anlegen und die Arbeit ändern obwohl die Prüfer sie vorab als gut einstuft?
Bleibt der Prüfling bei der Arbeit, von der der Prüfer “gut” sagt, dann verliert er, weil er sich darauf nicht hätte verlassen dürfen. Ändert er seine Arbeit, dann verliert er auch, weil er nicht auf den Prüfer gehört hat. Zumal der Prüfer als Betreuer auch weisungsbefugt ist. Warum der Prüfling das nicht als Weisung verstehen soll, betrachten die Richter hier nicht.
Einzuräumen ist, daß die Richter in diesem Urteil immerhin überprüfen, ob die Prüfer nachvollziehbare Bewertungen abgegeben haben. Aber schon das Ergebnis dieser Überprüfung ist äußert unglaubwürdig, denn Formulierungen wie “etwas holprig”, “die Einleitung fesselt nicht”, “kommt die Autorin mitunter banal daher” usw. sind keine Bewertung, sondern ein Bild der Substanzlosigkeit, da haben die Prüfer ersichtlich aus dem großen Fundus professoraler Phrasen für Universalgeschwätz und alle Lebenslagen geschöpft. Man muß sich eine Weile mit den typisch universitären Redewendungen befassen um zu bemerken, daß sich an den Universitäten heute ein unsägliches Geschmeiße mit den immer selben dämlichen Worthülsen stattfindet, ohne jede Substanz. Von Verwaltungsrichtern im Prüfungsrecht muß man erwarten können, daß sie das wissen und entsprechend damit umgehen.
Man hätte die Frage stellen müssen, ob darin eine begründete und für den Prüfling greifbare und überprüfbare Wertung steckt. Was soll denn eine Aussage wie “die Einleitung fesselt nicht” dem Prüfling sagen? Es ist unzulässig, wenn der Prüfer etwas bewertet, was nicht als Prüfungsleistung gefordert war. Das heißt, das Gericht hätte ausführen müssen, wieso es zum Ziel der Berufsausbildung im jeweiligen Fach gehört, fesselnde Einleitungen zu schreiben. Da muß man durchaus fragen, ob diese Richter Sinn und Zweck einer Prüfung erfaßt haben.
Ich finde in diesem Urteil auch Aussagen, denen ich – in gewissem Umfang und trotz ihrer Zweischneidigkeit – zustimmen kann, allerdings nur mit heftigem Sodbrennen:
Nicht allein schon dadurch, dass der Prüfling übernommene Textstellen als Zitat kennzeichnet, erfüllt seine Arbeit wissenschaftliche Anforderungen. Erst die Gewinnung gedanklicher Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Auffassungen anderer Wissenschaftler, die Strukturierung und Gewichtung dieser Schlussfolgerungen und ebenso ihre sprachliche Umsetzung in einen wissenschaftlichen Text stellen eigenständige wissenschaftliche Leistungen des Prüflings dar. […]
Eieiei, das ist heikel. Da haben sich die Richter auf ein äußerst dünnes Eis begeben.
Richtig und zustimmungswürdig ist der erste Teil der Aussage, daß das bloße Zitieren noch keine wissenschaftliche Leistung darstellt. Das sehe ich auch so.
Ich habe schon allerhand Dissertationen gesehen, die ausschließlich aus Wiedergaben der Arbeiten anderer zusammengestoppelt waren. Viele Leute haben ihren Doktor alleine durch das Aneinanderfügen von Ergebnissen andere – auch mit Quellenangaben – erhalten. Jedenfalls in Karlsruhe wird eine Arbeit sogar abgelehnt, weil zuwenig zitiert wird, egal ob das Zitat richtig oder sinnvoll wäre. “Wissenschaftliches Arbeiten” heißt an vielen Universitäten eben vor allem das Bedienen der Zitierkartelle, und erschreckend viele Professoren bewerten eine Arbeit zuerst oder sogar allein nach ihrem Quellenverzeichnis – wen hat der Prüfling zitiert. Was der Prüfling selbst schreibt, interessiert die meisten erst gar nicht, weil sie einem unterhalb der Professur sowieso keine eigene Meinung zubilligen. Die Prüfer hatten hier in diesem Rechtsstreit sogar vorgetragen, daß in einer Diplomarbeit durchschnittlich drei bis sechs Zitate pro Seite zulässig seien. Wäre ich Richter, hätte ich solche Prüfer rausgeworfen, ohne vorher die Tür zu öffnen. Da wird doch eine Abschreibmentalität geradezu aufgezwungen.
Immerhin sehen die Richter das kritisch, und anscheinend hatte die Klägerin in ihrer Diplomarbeit tatsächlich eine solche Zitatedichte erreicht. Sie scheint (vgl. Rn. 29) wörtliche Zitate und sinngemäße Zitate mehr oder weniger durcheinander gemischt zu haben. Wenn eine Arbeit (fast) nur aus Zitaten mit unklarer Darstellung besteht, kann man sich durchaus ablehnen – was nicht automatisch bedeutet, daß ein Gerichtsurteil richtig ist, weil es die Ablehnung bestätigt. Auch wenn eine Prüfungsarbeit tatsächlich schlecht war, kann das Gerichtsurteil ebenfalls schlecht sein.
Ein schlechtes Urteil zeigt sich beispielsweise an schlampigen Formulierungen. So heißt es im Tenor:
Erst die Gewinnung gedanklicher Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Auffassungen anderer Wissenschaftler, die Strukturierung und Gewichtung dieser Schlussfolgerungen und ebenso ihre sprachliche Umsetzung in einen wissenschaftlichen Text stellen eigenständige wissenschaftliche Leistungen des Prüflings dar.
Das erweckt den Eindruck, als könne man nur auf Grundlage der Auffassungen andere Wissenschaftler selbst wissenschaftlich arbeiten. In der Begründung des Urteils (Rn. 41) liest sich das dann anders. Da steht eher, daß man mit einer solchen Bearbeitung und weiterführenden Gedanken durchaus eine wissenschaftliche Leistung erbringen kann, aber nicht schon mit dem reinen Zitieren. Dieser Teil des Urteils läßt es mehr oder weniger offen (obwohl die Richter doch die “eigenständige Recherche” als wichtig hinstellen. Jedenfalls die Urteilsbegründung läßt ihrer Formulierung nach auch ganz andere Wege wissenschaftlichen Arbeitens zu, während der Tenor es so hinstellt, als ginge dies nur durch Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Auffassungen anderer Wissenschaftler. Zwar ist es genaugenommen sprachlich gerade noch korrekt, weil ja ein “Nicht allein schon dadurch…” davor steht. Aber es ist äußerst mißverständlich und spielt als Zitatliefernt gerade jenen vielen Panschern unter den Wissenschafts-Simulanten in die Hände, die den Standpunkt vertreten, daß Diplomanden und Doktoranden überhaupt nur durch Huldigen der Größen des Faches bestehen könnten. Auch wenn die Richter dies vielleicht gar nicht wollten – das Ergebnis ist übel.
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“Ein schlechtes Urteil zeigt sich beispielsweise an schlampigen Formulierungen. So heißt es im Tenor: ”
Nein. Der Tenor ist, daß die Klage abgewiesen wird. Du zitierst da einen Leitsatz. Der ist kein offizieller Teil des Urteils.
“Die erste der Hauptaussagen des Urteils ist
[…]
Was soll das nun bedeuten?”
Das ist ein Leitsatz, also eine äußerst knappe Zusammenfassung von dem, was in den Gründen steht. Eine rechtliche Bedeutung oder Verbindlichkeit hat es nicht.
“der Prüfling hätte sich nicht darauf verlassen dürfen, wenn die Prüfer ihm mitteilen, das wäre alles prima.”
Das wird näher ausgeführt: Der Prüfer hat explizit nur zur Gliederung und zum Anfang eines Kapitels Stellung genommen.
“Ein sehr bekannter und anerkannter Anwalt, der sich auf Prüfungsrecht spezialisiert hat und auf dem Gebiet als maßgeblich angesehen wird, sagte mir, daß er seit der Neubesetzung des Senats gar nichts mehr gewinnt. Die hören nicht mal mehr zu. Der Umbau des Rechtsstaats in einen Obrigkeitsstaat (und damit in den Korruptionsstaat) findet auch und vor allem in den Gerichtssälen statt.”
Ich habe auch so meine Erfahrungen mit dem VGH. Gerade hat der eine Watschen vom BVerwG bekommen (von der er noch nichts weiß): http://blog.tessarakt.de/archiv/2009/07/24/bverwg-verfassungsbeschwerde-gerechtfertigt/
Ich denke, daß damit schon vorgezeichnet ist, wie die Entscheidung des BVerfG ausfallen wird …
Daraus folgt: Es lohnt sich, bei objektiv willkürlichen Gerichtsentscheidungen Verfassungsbeschwerde einzulegen.
“Das wiederum erlaubt das Werturteil, daß das Urteil nicht viel taugt, denn ein Urteil muß so abgefaßt sein, daß man es auch isoliert lesen und verstehen kann.”
Nö. Verweise auf den Akteninhalt sind IMO durchaus zulässig.